(Leseprobe von meinem Werk „Schuhe der Scham“)
Er schaute nach links. Auch nach rechts schaute er. Ihm schien es, als ob er denjenigen, der gerade auf ihn zukam, kannte. Da ihn der andere bewusst anschaute, kannte er ihn sicherlich auch. Er könnte sein Schüler gewesen sein. In der Tat, so war es auch. Er grüßte ihn - „Guten Morgen, Herr Professor“ - sagte er.
Der arme Professor ging noch ein Stück weiter. Danach kehrte er rasch wieder um. Jetzt musste er sich zusammenreißen. Auch etwas schneller musste er sein.
Er näherte sich dem Siggo, der gebrauchte Schuhe verkaufte. Und er war gerade soweit mit seiner Entscheidung - dort anzuhalten, um ihn nach den hohen Schuhen mit dem warmen Innenfutter zu fragen -, als plötzlich ein weiterer Gruß landete.
„Zum Teufel“, meinte er!
War doch wurscht. Er würde noch eine weitere kleine Runde drehen, bis zu der Kurve mit dem Lokalblatt, und dann würde er den Siggo auf jeden Fall nach den genannten Schuhen fragen.
Bereits gestern waren ihm jene Schuhe aufgefallen, und sie gefielen ihm sehr.
„Die Firma Roma, die Firma Roma, die ganze Stadt wird wohl mit deren Ware bekleidet“, hatte seine Ehefrau gesagt. Aber er wusste, dass diese Behauptung nicht so ganz stimmte, da es zahlreiche Menschen gibt, die teure Kleidung und Schuhe präferieren, unglaublich teure, viel mehr als sein gesamtes Monatsgehalt.
Er war dabei, die Kurve mit dem Zeitungsgebäude zu passieren, als er plötzlich jemanden rufen hörte. Die Stimme des Zeitungredakteurs kam ihm bekannt vor. Der Redakteur winkte ihm von seinem Bürofenster aus zu. Dabei spürte er sowas wie gemischte Gefühle.
„Zum Teufel, der fehlt mir jetzt noch!“
Der Sicherheitsmann gestattete ihm, sich dem Fenster für ein Gespräch zu nähern. Ihm fiel ein, dass er vor Kurzem etwas geschrieben hatte und der Zeitungsredakteur sicherlich etwas dazu sagen wollte. Möglicherweise etwas Kritisches. Schon möglich… Nein, doch. Sein Text war auch im lokalen TV-Sender verwendet worden, und er hatte es nicht mitbekommen, da er seit einer ganzen Woche, aufgrund von Modernisierungsmaßnahmen, mit einem Stromausfall konfrontiert war. Der Redakteur bot ihm an, hereinzukommen und sein Honorar zu empfangen.
Er ging ins Gebäude, mit der Hoffnung, sich wenigstens mit dem Honorar etwas leisten zu können.
„Wenig, ist es, Herr Autor“, sagte die Kassiererin zu ihm, „aber besser als gar nichts. Es ist gerade noch genug, um bei Roma einiges kaufen zu können!“ So ließ sie ihm bei der Auszahlung ein wenig Humor zukommen, während der Autor innerlich nachdenken musste.
Bei Roma… Wag es doch, dich zum Rom, der gegenüber von der Zeitung Schuhe verkauft, zu begeben… Für eine Jacke oder ein Hemd wäre die Ehefrau gekommen… Die Schuhe aber müssen dort vor Ort probiert werden, anderenfalls kennt dich der Siggo nicht mehr, sobald er das Geld in seine Tasche gesteckt hat…
Er tut so, als ob er den Humor der Kassiererin verstanden hätte, unterschreibt, ohne nachzusehen, wie viel Geld ihm ausgezahlt wurde, und als er es in seine Tasche steckt, denkt er daran, es gleich in einer versteckten Nebenstraße nachzuzählen. Doch nein! Er würde nicht so eine Dummheit begehen und die Aufmerksamkeit eines Diebes erwecken…
Besser wäre es abzuwarten, bis die von der Redaktion Kaffee trinken gehen, dann konnte er sich zu den Schuhen begeben. Im Grunde konnten sie ihn ruhig sehen. Nur die, die ihn kennen, sollen ihn dabei nicht sehen…
So verhält er sich auch. Er stellt sich an eine Ecke der Straße und tut so, als ob er mit Interesse die Zeitung lesen würde. Zwei, drei Jugendliche lachen ihn aus… „Na, der Herr, alles klar? Du liest ja umgekehrt, da hältst die Zeitung verkehrt herum!“
Mein Gott! Wie soll er sich vor lauter Scham nur unsichtbar machen… Die Jugendlichen entfernen sich dann und denken: Der kann gar nicht lesen… Der Schweiß läuft ihm herunter, während er sich aufmerksam umschaut - nach links, nach rechts -, ob ihn jemand erkannt haben könnte… Aber nein… Niemand hat ihn gesehen oder erkannt… Die Jugendlichen, die ihn ausgelacht haben, könnten bei der kommenden Buchmesse möglicherweise zu seinen begeisterten Leser zählen…
Da, schließlich kommt der lang erwartete Moment… Die Redakteure kommen - miteinander streitend - heraus und gehen zusammen mit anderen Mitarbeitern in das gegenüberliegende Café… Und, als ob ihn das Glück verfolgen würde, bremst ein Mercedes heftig und kollidiert mit einem anderen Wagen, doch ohne dabei einen großen Schaden zu verursachen. Er ist aber groß genug, um eine Menschenmenge zum Ort des Geschehens zu locken, wie Bienen an einen blühenden Baum. So viel war nötig… Er wirkt plötzlich mutig und nähert sich der Schuhkolonne.
Der Siggo sieht ihn kommen. Er ist zu einem Profi in seinem Geschäftszweig geworden. Der Geschäftsführer hat ihm sein Monatsgehalt auf Zweitausend erhöht. Als Profi versteht er, dass die Zeit zum Handeln gekommen ist.
„Was kann ich tun für Sie, mein Herr!?“ Das sticht dem Kunden wie ein Messer ins Herz! Ihm ist deutlich bewusst: Solange er dort ist, ist er auch kein Herr. Herren kaufen hier nicht. Für Herren gibt es ein Geschäft gegenüber der Universität. Ein weiteres auf einem bestimmten Markt. Auch die Firma „Slawik & Osnabrück“.
Der verdammte Siggo, warum spricht er so überheblich mit ihm, als ob er etwas Besseres wäre?
„Was kosten diese Schuhe, He…“
Traut er sich nicht das Wort „Herr“ dem Siggo zu widmen? Das Wort hat seinen Mund noch nicht vollständig verlassen, als der Siggo bereits alles durchschaut und ihm, wie ein Künstler, die begehrten Schuhe hinstellt.
„Nimm sie, Herr Dichter, sie sind noch viel billiger als nur preiswert. Nur fünf Zehner…“
Der Siggo spricht ihn laut an, weil er das Gewicht der Scham in ihm spürt. Es ist das erste Mal, dass er bei der Firma „Roma“ einkauft, und er weiß genau Bescheid, was für eine Ware das ist. Er hat aber keinen anderen Ausweg. Seine Schwiegermutter wird bald ihre Tochter besuchen, und sie will Schuhe kaufen… Ihr Schuharsenal hat aber mehr als die Hälfte seiner drei Löhne zusammen gekostet. Also werden sich er und seine Kinder bei „Roma“ einkleiden müssen… Ihm ist klar, dass die dort angebotenen Schuhe schon ein paarmal von seinen Kollegen in Oslo, in Stockholm, in Wien getragen und dann abgegeben wurden - für einen guten Zweck -, sobald ein besseres Modell auf dem Markt war.
„Etwas billiger, könnten Sie etwas mit dem Preis heruntergehen…“ Er stottert fast dabei, wie ein Schüler bei einer schweren Prüfung, während er den Siggo bittet, den Preis für ihn herabzusetzen.
Der Siggo spielt die andere Rolle. Er tut so, als ob er sagen wollte, dass der verlangte Preis supergünstig, die Ware fast umsonst wäre. Und er will die Schuhe wieder wegstellen, aber der Autor… Nein, er muss sie nehmen, weil morgen sie ein anderer kaufen könnte… Schließlich könnte er diesen Winter damit überstehen…
Dann scheint sich die gesamte Straße zu drehen. Gegenüber steht der Chef des Verlags. Er und seine Ehefrau halten sich vielleicht für etwas Besonderes, mein Gott! Öfters trägt er Markenkleidung, die ihm sein Schwager irgendwoher besorgt. Dem Autor ist es sehr unangenehm, am liebsten würde er auf der Stelle von der Erde verschluckt werden. Er wird lügen, er wird sagen, dass er dabei ist, sich ein paar Schuhe für die Gartenarbeit zu kaufen.
Der Chef des Verlags nähert sich der Schuhkolonne der Firma „Roma“, ohne dabei nach links oder nach rechts zu schauen. Jede seiner Bewegungen ist sicher, wie bei jedem anderen Chef auch. Dem Autor sind die Schuhe an seinen zitternden Händen kleben geblieben. Er ist sich sicher, dass der Chef so eine billige Lüge nicht glauben wird.
„Du, gestern habe ich doch ein paar hohe Schuhe mit warmem Innenfutter bei dir gesehen“, sagt der Chef, ohne zu zögern. Prompt, ohne die geringste Hemmung nimmt der Siggo dem Autor die Schuhe aus der Hand und stellt sie dem Chef vor die Füße.
„Gerade eben wollte dieser Heeerrr sie nicht haben!“, schien der Siggo sich lustig machen zu wollen. „Bitte sehr, nimm sie.“
Der Chef hat gar keine Zeit, einen Blick auf den Autor zu werfen. Er schaut, wie jeder andere Chef auch, die Ware an, die er kaufen will.
„Bleibt es bei dem gestrigen Preis?“
„Ja, klar. Nur sechs Zehner!“.
„Nun gut!“
Der Chef zahlt, nimmt die Schuhe und macht sich auf den Weg. Morgen wird er sicherlich erzählen, dass ihm sein Schwager - aus dem Ausland - diese Schuhe überlassen hätte.
Leipzig 2013 / Wuppertal 2014