(Leseprobe von meinem Werk „Die Glocken der Stille“)
Als sein Vater besoffen nach Hause kam, erschrak sich Jan sehr. Sobald er seine Schritte auf der Treppe und sein nervöses Klopfen an der Tür hörte, lief er weg in sein Zimmer. Es gab Zeiten, als er seine Ohrfeigen duldete. Jetzt fühlte er sich jedoch erwachsen. Er hatte seine Träume. Er hatte auch die Susanne. Für sie schlug sein Herz immer heftiger.
Es geschah während dieser Nacht. Er war noch nicht fertig mit dem Abendbrot, als er seine Schritte hörte. Wie jemand im Treppenhaus grüßte. Noch bevor sein Klopfen an der Tür zu hören war, lief er aus der Küche, zog sich zügig um und legte sich ins Bett. Es war sein Donnerwetter zu hören, eine heftige Beschimpfung seiner Ehefrau Dora, kaum dass er seine Füße über die Schwelle gesetzt hatte. Sie ertrug sein schlimmes Verhalten. Danach sang er ein Zigeunerlied, dessen Strophen er wiederholte bis hin zur Monotonie: „Danica du, Danica du, Danica du, weine über mich, weine über mich und lass die Tränen fließen ...”
Seinem in diesem Zustand angekommenen Vater gegenüber - es war eine Schande, ihn überhaupt „Vater“ zu nennen -, zeigte er außer Hass und Aufregung auch Mitleid. Er wusste aber selber nicht, aus welcher Quelle seiner Seele das Bemitleiden seines Vaters stammen könnte.
Schon seit langer Zeit, verhielt sich der Vater seiner Ehefrau Dora gegenüber wie ein Tyrann. Über Hera und Jan wollte er nie etwas wissen. Als ob es sie nicht gäbe. Seine Welt, seine Familie, alles war jetzt in ein Glas geflossen, das er dort trank, wo es billiger zu haben war. In einigen Lokalen entlang des Flusses Wupper, von einigen Roma und grünen Mitbürgern begleitet. Dort fand auch ein kleines Volksorchester statt. Sobald er stockbesoffen heimkehrte, hatte er irgendeine Strophe des Liedes fixiert, die blubberte er vor sich hin.
Dies war eine Nacht der 365 Nächte des Jahres, die sich auf unterschiedliche Art und Weise wiederholten, doch für Jan ...
Es war ein bestimmter Tag für Jan, nicht häufig wiederholt, der ihm einen Frühling zwischen Januar und seinem Lebensfrost bescherte.
Susannes Geburtstag wurde zum Geburtstag seiner Lebensträume. Er hätte sich kaum vorstellen können, dass dieser Tag nur einen Namen besitzen würde, Susanne.
Er schaute zur Uhr hin. Es war neun.
Seit Mittag schaute er nur noch die Uhr an, regelmäßig. Sein Blick war immer wieder in Richtung ihres Feldes gerichtet. In seiner Fantasie tauchte das süße Gesicht von Susanne auf. Aber hin und wieder auch ein Schmerz.
„Jan lernt gerade, oder!?“, fragte der Vater die Ehefrau.
„Er schläft“, antwortete Dora. Damit versuchte sie ihn abzulenken, bis Jan tatsächlich eingeschlafen war.
„Und was ist mit Hera?!“
„Hera ist von ihrer Tante eingeladen worden. Sie kommt erst spät zurück.“
„Wer begleitet sie auf dem Weg nach Hause?“, fragte er plötzlich nüchtern, obwohl er mit seinen Beinen hin und her schwankte.
„Sollte sie keiner begleiten können, schläft sie eben bei Tante Klara. In ihrer Wohnung findet die Feier statt.“
„Bei Tante Klara?!“
„Genau! Was zum Teufel hast du?“
„Ich mag weder deine Schwester noch ihren Mann!“
Dora, bereits an solche Fälle gewöhnt, antwortete nicht und das machte ihn mutiger.
„Wie soll einem eine Familie gefallen, die nicht einmal eine Flasche Schnaps in ihrem Haushalt besitzt? Bist du dort zur Besuch, bieten sie einem Likör an! Literweise Likör!“
„Schrei nicht so laut!“, Dora schien mutiger zu werden. „Der Sohn schläft und könnte aufgeweckt werden!“
Er stand für einen Augenblick still. Seine Augenränder wirkten aufgeschwemmt, eine seiner Augenbrauen war blau, wahrscheinlich durch irgendeine Faust aus der Kneipe. Sein Haar war unordentlich.
Im Zimmer hatte Jan kaum Schlaf.
Er spürte seine Tränen fließen. Aber er wollte nicht aufgeben. Dabei war er nicht mehr zu klein, um endgültig begreifen zu können, dass es mit der Familie bergab gegangen war.
Sie hatten mal ein Apartment - mit zwei Räumen und Küche ausgestattet - als Eigentum am Rande des Zentrums. Der Vater verkaufte es für ein Stück Brot, sicherlich stockbesoffen. Mit dem Argument, er wollte gern seine Schulden bei einem Bekannten begleichen. Als Folge kauften sie einen Raum mit Küche. Aufgrund dessen nun waren sie, das Ehepaar und Jan, gezwungen, in demselben Raum zu schlafen. Hera schlief auf einer Matratze in der Küche.
Hera war Jans Halbschwester. Sie war nur die Tochter seiner Ehefrau. Deswegen schlief Hera auch in der Küche.
Vor einiger Zeit hatte sein Vater Streit mit seinem Chef, dem Besitzer einer Autowerkstatt. Der hatte ihm, ohne zu zögern gekündigt und ihn auf die Straße gesetzt. Er schwor, den Besitzer erschießen zu wollen, gab es aber auf, wie es schien.
Sein Kindheitsfreund fand in einer Spielhalle Arbeit für ihn. Dort verdiente er etwas dank einiger Zocker, die ihm einen Hunderter schenkten nachdem sie gewannen. Selbst dort war es nicht auf Dauer für ihn. Jemand soll ihm keinen Anteil des Gewinns gegeben haben. Er schlug denjenigen mit einem Billardstock auf den Schädel. Der Fremde aber, selbst in dem blutenden Zustand, kehrte anschließend mit einigen Freunden zurück und schlug ihn krankenhausreif. Danach zog er von Kneipe zu Kneipe bis er in den umliegenden Lokalen endete. Seitdem ist er nicht mehr von dort zu trennen. Wo auch immer er trank, Dora war dies mittlerweile unwichtig geworden. Er war vielmehr zum „Hotelgast“ bei sich zu Hause geworden. Sie lebte mit ihm nur noch wegen der Kinder und ihrer Ehre zusammen. Außerdem wusste sie nicht wohin, sollte sie sich von ihm trennen.
Die Mutter war wütend auf ihren Mann, der Vater sang durch die Nase und Zähne:
„Danica du, Danica du, Danica du ...“
„Hey, du wirkst etwas lebendiger. Nein! Wie soll ich es sagen? Du bist nicht etwa schwanger?“, hörte Jan seine Stimme wie ein monotones Intermezzo und fühlte sich kaum wohl, als er das hörte.
„Zum Teufel mit dir!“, hörte Jan die Stimme seiner Mutter. Sehr leicht, sehr leise. „Quatsche nicht mehr, Jan könnte noch nicht eingeschlafen sein! Das fehlte uns noch!“
„Nein, ich wollte damit nur sagen, du scheinst etwas zugenommen zu haben. Weißt du noch was Günther sagt? Güni, der Klarinettist ... Du ... Er sagt bei dem dünnen Mann legt die Ehefrau zu ... Hi-hi-hiii ... Du verstehst es, oder nicht?“
„Wasch dich, du stinkst nach Fisch!“
„Fisch!? Was für Fisch denn!? Ich hatte ein Glas, Fisch aber hatte ich keinen! Ein Zigeuner hinterließ mir das Knochenfleisch. Er hinterließ es. Ich sammelte es und ... Man muss sich nicht schämen, wenn man von anderen etwas angeboten bekommt. Wenn man klaut, muss man sich schämen. Ich sammelte es. Sammelte auch die Kippen-Reste. Selbst mit der Munition meiner Knarre konnte ich mir nicht leisten, Zigaretten zu kaufen.“
„Für Alkohol hattest du scheinbar ausreichend Geld!“
„Idiotin! Idiotin des Jahrhunderts! Martin verfügt über einen Block, Idiotin! Ich trinke, er schreibt ... Außerdem, Gott wird alles auf die Reihe bringen! Ich habe ein Angebot bekommen, als Nachtwache zu arbeiten.“
Was aus dem Munde seines Vaters herausgelassen wurde, das schockte Jan viel zu sehr. Noch tiefer enttäuscht konnte er nicht sein. Sein Vater fraß die Essensreste, trank ein Glas auf Pump. Ein Glas, das auch für zwei notiert wurde, je nach Zustand des Vaters.
Er steckte den Kopf unter das Kissen, um ihn nicht mehr hören zu können.
Nur seine Mama tat ihm leid. Unendlich sogar, denn sie, als wehrlose Frau, war nur mit dem „Fleisch für Hunde“ zu vergleichen.
In dem Moment dachte er an Susanne. Susanne, mit ihren großen Augen. Jede Sekunde tauchte ihr Bild auf. Wie konnte es ihm so vorkommen, als ob Susanne Abstand von ihm nahm. Wie konnte er denken, dass sie nie zusammen kommen könnten? In der Tat war Jan das Ass der Klasse. Das Leben verfügte aber auch über andere Realitäten. Er hatte gerade mal ein Glas Tee in seinem Magen, bevor er in die Schule ging. Fast täglich war es das Gleiche. Susanne wurde von ihrem Vater mit dem Auto zu Schule gefahren. In die Disco, wohin die anderen Klassenfreunde jede Woche gingen, konnte er nicht gehen, weil ihm das Geld dafür fehlte. Statt es für die Getränke dort auszugeben, verwendete er das gesparte Geld lieber für Literatur und CDs.
Seine Mutter Dora kam, nachdem ihr erster Mann starb, mit seinem Vater Axel zusammen. Er hatte Bilder von seiner Mutter gesehen, als sie noch jünger war. Vor zwanzig Jahren konnte man sie mit einer Schauspielerin vergleichen. Sie hatte die Hera und musste zurückstecken und einen Mann ohne Hochschule, ohne jede Ausbildung, mit einem kleinen Fabriklohn heiraten. Über seinen Vater wurde nicht unbedingt schlecht gesprochen. Außerdem verfügte er über ein recht nettes Erscheinungsbild, war nicht verheiratet und, obwohl 40 Jahre alt, noch sehr gut erhalten.
Das Ganze erzählte ihm die Mutter, so oft Jan sein Buch ruhen ließ und in die Küche kam.
Jedoch machten die Jahre der jetzigen, unmöglichen Ehe die Mutter alt. Der Vater war mehr oder weniger mit einem Penner zu vergleichen. Und das war für den Jungen unerträglich. Und wie unerträglich! Besonders jetzt.
Er musste immer wieder daran denken: Was war, wenn Susanne erfuhr, dass sein Vater stockbesoffen durch die Kneipen zog, wenn sie ihm eines Tages auf der Straße beim Achten Formen begegnete. Dann würde sicherlich alles beendet sein.
Susanne hatte er heute zum ersten Mal geküsst. Einmal, ein hundertmal ... Zu ihrem 16. Geburtstag wollte sie nicht in die Disco, da sie viel Platz zu Hause hatte. Sie wollte sich nicht von irgendeinem Rebellen ihre Feier verderben lassen. Sie selber hatte ihm angeboten, deutlich früher als die anderen Klassenfreunde zu kommen, da sie angeblich eine Überraschung für ihn hätte.
„Du könntest gegen Elf kommen und mir bei den Vorbereitungen helfen.“
Der Mutter zu sagen, dass seine beste Klassenfreundin Geburtstag hatte, traute er sich nicht, da er selbst auch gerade erst 16 war. Dabei dachte er sich, dass die Mutter das folgendermaßen übersetzen würde: „Meine Geliebte hat Geburtstag ...“
In diesem Monat kaufte er kaum Bücher. Die von seinem Onkel geschenkten einhundert Euro verwahrte er, um Susanne mit dem Geld eine Uhr kaufen zu können. Eine von den Armbanduhren, wie die Mädchen sie bevorzugten. Mit schwarzem Ziffernblatt, etwas größer als sonst. Das wäre das Geburtstagsgeschenk. So tat er es auch. Er kam um Punkt elf Uhr an, eine Stunde vor den anderen Freunden.
Mit etwas Angst klingelte er am Eingangstor. Er fürchtete dabei, dass einer aus Susannes Familie unerwartet vor ihm stünde. Jedoch war sie es, die die Tür öffnete.
„Alle sind weg und das Haus gehört uns!“
Susanne hatte sich fein gemacht, sie war dadurch mit einem Stern zu vergleichen. Mit den Augen seiner Fantasie stellte er sich den Moment vor, wie Susanne als Braut aussehen würde, wenn sie noch etwas mehr für ihr Outfit machen würde.
Und so hing sie hoch erfreut an seiner Schulter. Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, ob sie ihn zuerst küsste oder er sie. Danach fragte sich Susanne, warum sie ihn nicht zwei Stunden eher zu kommen gebeten hatte. Sie konnten vom Küssen nicht genug bekommen. Die Magie der Küsse trieb ihn dazu, für den Moment alles zu vergessen. Ihn beeindruckten nicht mehr die schönen Vasen entlang des Korridors. Auch nicht die vielen schönen Lampen, die das Haus beleuchteten. Auch nicht die teuersten Teppiche, die abgetönten Marmorsteine, die vielen Skulpturen und Bilder an den Wänden, stilvoll angebracht. Er vergaß selbst seinen Vater, während dieser beim Zigarettenrestesammeln war. Jetzt verfügte alles über den Namen Liebe, die er für das erste Mal kosten durfte.
„Sollen wir in mein Zimmer gehen?“
Noch küssend und umarmend, erreichten sie die zweite Etage. Er war fasziniert, als er ihr Reich sah. Es war voller Poster von Schauspielern und wertvollen Relikten.
„Deine Schwester, wo schläft sie?“, fragte er, als er nur ein Bett in einer Ecke wahrnahm.
„Oh, sie hat ihr eigenes Zimmer und zu jedem Zimmer gehört ein Bad.“
Sie legte ihn auf das Bett und küsste ihn. Ihr Duft hypnotisierte ihn.
„Das war die Überraschung?“, fragte er sie, überströmt von einer Freude, die sie und das Ambiente ihm bot.
„Ah! Nicht nur das!“, sagte sie, ging kurz weg und kam mit einem dekorativen Päckchen in der Hand zurück.
„Ich dachte, zu meinem Geburtstag vermache ich dir ein Geschenk. Ich wurde aufmerksam, weil du mich während des Unterrichtes häufig nach der Uhrzeit fragst. Weiß nicht ob es dir gefällt, gestern brachte sie mir mein Onkel aus Paris.“
Es versetzte ihm einen Stich, während er gleichzeitig sein Glück nicht fassen konnte. Das Geschenk, die für Susanne bestimmte Uhr, verschwand plötzlich. Verschwand genauso wie ein Sandkorn in einer unendlichen Wüste.
Wie er sich daran erinnern konnte. Der Vergleich bereitete ihm umso mehr Ähnlichkeiten mit seinem Vater. Der war auch längst aus dieser Gesellschaft wie ein Sandkorn in einer Wüste verschwunden.
Aus dem Korridor waren erneut die Stimme des Vaters und dessen monotones Lied zu hören.
„Mann du, hör endlich auf, jetzt reicht‘s! Häng das Hemd ins Bad, damit die Kinder keine Läuse abbekommen! Dusch dich mal, die Wäsche befindet sich hinter der Tür!“
Das Telefon klingelte.
Jans Mutter telefonierte mit ihrer Tochter. Hera würde heute Nacht nicht hier schlafen. Jan hatte beinahe vor, aufzustehen und auf Heras Bett in der Küche zu schlafen, jedoch hatte er Angst, dass sein Vater wer weiß was darüber dächte. Das könnte einen heftigen Streit auslösen, wie vor einem Monat. Die Mutter sagte zu Hera am Apparat, dass Jan bereits eingeschlafen sei, sie dürfe ruhig dort übernachten.
Einschlafen konnte er nicht mehr. Er steckte seinen Kopf erneut tief unter das Kissen, wollte seine Aufregung von heute Mittag nicht ganz glauben. Die von Susanne geschenkte Uhr trieb ihn zu einer nicht lösbaren Aufgabe hin.
„Was hast du?“, hatte Susanne ihn gefragt.
„Nichts!“
„Wie, nichts?“
„Nichts, eben!“
„Nein, du hast etwas!“
„Ich muss kurz rausgehen!“
Sie war überrascht und hatte ihre Augen ganz weit aufgemacht.
„Wie rausgehen?! Ich will dich aber küssen, oder?“ Sie schaute ihn mit fragenden Augen an, voller Unschuld.
„Es sei denn, du hast eine andere?“
Statt ihr eine Antwort zu geben, küsste er sie.
„Susanne, du bist das erstes Mädchen, das ich küsse!“
„Für mich auch, Jan! Und es wird mich kein weiterer küssen!“
Zwei Adoleszenten küssten sich unzertrennlich, dabei schwuren sie jetzt schon „Ewige Liebe“.
„Susanne, versteh mich, ich will nur rausgehen! Nur ganz kurz, ich komme dann wieder zurück.“
„Ich lasse es nicht zu, selbst wenn gleich der Untergang stattfindet!“
Jan war in seine Gedanken versunken, stellte sich vor, wie die anderen Schulfreunde mit den Geschenken in den Händen kommen und er ... Die Uhr in seiner Tasche, die in einem sehr hübschen Päckchen war, geriet sicherlich in Vergessenheit. Sie war schon modern, allerdings kaum vergleichbar mit der Uhr, die Susanne ihm schenkte. Er konnte ihr nun nicht ebenfalls eine Uhr schenken. Das könnte als lächerlich betrachtet werden. Er wollte zu Mamas Arbeitsplatz hin. Weil sie ihm vielleicht helfen könnte. Oder sollte er besser zum Onkel gehen? Schließlich könnte er sich von seinem Onkel einen weiteren Hunderter leihen und es eines Tages zurückzahlen.
„Hier, schenke mir einen Kuss und der Rest ist für mich wertlos, Jan!“
„Susanne, mein Schatz!“
Er verschloss ihr den Mund mit einem feurigen Kuss.
„Was könnte ich noch verlangen, Jan“, sagte sie in Ekstase.
Dank ihrer Klugheit schaffte sie es, ihn aus einer peinlichen Situation zu befreien.
Es gab kaum einen besseren Moment für Jan, um sich mit der Situation abzufinden. Aus seiner Jeanstasche holte er das Päckchen mit der Uhr raus. Sie nahm es. Sie schaute es an.
„Weder meine noch deine Uhr haben jetzt Wert, Jan!“, sagte sie von einem überwältigenden Gefühl ergriffen. „Denn genauso wie ich, wirst du nicht mehr auf das Ticken der Uhr achten, sondern wir werden dem Ticken unserer Herzen folgen. Hier, leg deinen Kopf hier her.“
Er legte seinen Kopf unter ihren linken Busen und fühlte in dem Moment alle Uhren der Welt ticken und gleichzeitig alle Herzen der Verliebten schlagen.
Die Freunde kamen. Alles war fantastisch. Er hatte es nötig, das miserable Leben von Zuhause mal abzuschalten. Als Susanne die Kerzen auspusten wollte, rief sie ihn, um ihr zu helfen. Danach tanzte sie mit ihm. Für die Klassenfreunde war keine Frage mehr offen. Sie beneideten Jan, wussten aber, dass er solch eine Art Honig wie Susanne verdiente. Danach kam der Abschied. Ein blitzschneller Kuss an der Tür, unter einer Öllampe, die aus irgendeinem Grund dort hing.
Hinter dem Traumpalast war eine Straße voller Löcher, ein Apartment mit einem Eingang, ein stockbesoffener Vater.
Das Klassen-Ass.
Der Tag mit dem Ozean voller Gefühle war nun vorüber, die Orkannacht war gekommen.
Die Mutter bemitleidete den Vater. Sie hatte längst genug.
„Ich schwöre dir, das war das letzte Mal! Ich trinke nicht mehr!“
„Du hast tausendmal geschworen!“, antwortete sie.
„Ich schwöre! Bei Jans Kopf!“
„Würdest du Jan nur ein wenig lieben, wären uns diese unerträglichen Situationen erspart geblieben.“
Jan hörte Fragmente aus dem Dialog. Danach brannte alles in ihm. Das Herzrasen hörte er auch. Die Uhr von Susanne war still. Die Badezimmertür quietschte etwas. Das Duschwasser war zu hören. Denn nach diesem Intermezzo fühlte er sich wohl. Sein Vater konnte nicht mehr ablehnen, unter die Dusche zu gehen.
Jan steckte seinen Kopf umso tiefer unter das Kissen. Hörte seine Schritte, während er sich der Tür näherte, danach das Quietschen der Bettfederung, das sein Körpergewicht verursachte.
„Dora!“
„Halt den Mund!“, hörte er seine Mutter schimpfen. Gleichzeitig hörte er ihre Bewegungen in der Küche, mit der Hoffnung, dass ihr Mann, sobald dessen Kopf auf dem Kissen lag, sofort einschlafen würde.
Es dauerte nicht lange. Die täglichen Verpflichtungen und das lange Stehen der Mutter siegten, sie legte sich hin. Aber, wie es schien, hatte der Vater - wie eine präzise gestellte Falle - gewartet.
„Nicht! Du Wahnsinniger!“
Jetzt hatte Jan nicht mehr das Gesicht von Susanne vor sich, auch nichts anderes. Er traute sich nicht, irgendeine Bewegung zu tätigen, um nicht mit einem Zeichen seiner Mutter zu verraten, dass er noch wach war. Sein Herz schlug nicht heftig. Er war einem Stein ähnlich. Im Endeffekt war er kein kleines Kind mehr. Wie oft hatte er darüber gelesen und gehört, wie so ein Akt unter Ehepaaren war und normalerweise verlief. Obwohl der jetzige vielmehr durch Gewalt erzwungen wurde.
Abgesehen vom Stöhnen seiner Mutter, begriff er, dass sie seine Lust zwangsläufig nicht abweisen konnte und hörte zum Schluss ihr wütendes Explodieren:
„Tier!“
„Ne, ne, Günther hat recht, die Braut legt zu!“
Jahrelang schlief er in demselben Raum mit ihnen und noch nie ... Es war das erste Mal, dass er ihr Stöhnen hören musste. So hatte er sich auch mit Susanne gefühlt. Am Anfang hatte er wie ein Rosenblatt gezittert, als sie ihn küsste. Danach fing das innere Feuer an. Nicht nur ihre Lippen hatte er geküsst, auch ihren Busen. Als er ihren Büstenhalter aufmachte, sah er zum ersten Mal zwei sehr kompakte und erregte Äpfel. Sein gesamter Körper wurde dem Zittern ausgesetzt.
Natürlich spürte sie die gleiche Lust wie er. Er dachte kaum daran, weiter zu gehen. Er meinte, wenn er die Hand weiter nach unten strecken würde, würde er auf einem Minenfeld landen, dessen Explosion schließlich fatale Folgen auslösen würde. Würde sie seine Hand einmal abweisen oder einmal ablehnen, dann würde alles in den Untergang gleiten.
Die Mutter kam hoch und ging aus dem Zimmer. Er hörte die Badezimmertür krachen. Er hörte, wie sie erneut zurück kam, roch den Alkoholgestank, den das Schnarchen seines Vaters auslöste. Jan war sich sicher, dass die Mutter schlafen würde. Ein wenig müde von ihrer Arbeit, als Spülkraft in einer Küche, ein wenig von dem Stress. Sicherlich würde sie gleich einschlafen.
Er aber ... O Gott! Wie kann das denn möglich sein? Susanne wäre für ihn nicht bestimmt?! ...
Das Leben, das er führte, war ein kaum zu erreichender Kontinent, weit weg von ihr. Und wie lange musste er laufen, um die Distanz zu überwinden? Was redete er da bloß? Er schaffte es wohl sehr schnell zu laufen, die Anderen blieben aber nicht stehen. Wenn du meinst, zwei Schritte nach vorn gemacht zu haben, machen sie gleich drei, fünf, zehn Schritte und somit würde die Distanz wachsen, sie wuchs. Dein Weitergehen bedeutete nie das Stehenbleiben von dem Rest.
Vielleicht wurden seine Augen müde. Vielleicht entfernte die Susanne sich umso mehr von ihm. Genauso hatte sich seine Mutter geopfert. Er würde sich ein Leben lang hochwertig fühlen. Und was für eine Bedeutung würde danach so ein Leben zwischen den Stehlampen, wertvollen Skulpturen, schönen Marmorsteinen haben?
Er wusste es nicht. Er erinnerte sich plötzlich an ihre Uhr. Seiner Mutter hatte er die von Susanne geschenkte Uhr noch nicht präsentiert. Er war sich nicht im Klaren, ob er mit der Uhr schlafen konnte, oder sie doch abmachen musste? Es war die erste Uhr überhaupt, die er trug. Es war ihre Erinnerung. Es war ihr Tick-Tack.
Er nahm die Uhr doch ab. Heute Nacht wollte er nur die Schläge seines Herzens hören.
DE-Wuppertal, Januar 2004 / Essen, Dezember 2005