(Leseprobe von meinem Werk „Die Glocken der Stille“)
Die Verkäufer der Ladengeschäfte kennen ihn fast alle. Jemand grüßt ihn mit „Guten Morgen, Regisseur!“, jemand mit „Guten Morgen, Herr Berliner!“
Ihm ist vollkommen klar, dass jeder ihn als Kunden halten will. Sie kennen ihn als Schriftsteller, aber er ist auch nur ein Mensch, und wie jeder andere Mensch auch hat er es morgens nötig, Hosen anzuziehen, Shampoo zum Haarewaschen zu nehmen und eine Packung Zigaretten einzustecken.
Obwohl er sich selbst nicht als potentiellen Kunden für sie alle betrachtet, ist es ihm einfach wichtig, ins Gespräch zu kommen, damit er sich stolz bei den Verkäufern in der Nachbarschaft als Schriftsteller präsentieren kann.
Viele von ihnen kennt er. Mitbürger, mit einigen hat ihn das Leben bekannt gemacht. Obwohl er sich nicht alle Namen merken kann, mal grüßt er sie, mal nicht. Das tut er bewusst, aus dem einfachen Grund, dass er unterwegs gern spontane Sätze von sich gibt, die er zuvor daheim eingeübt hat.
Verschiedene Motive, auch nicht ausgesprochene, versucht er, seiner Erinnerung einzuschreiben, damit er sie nachträglich entweder im Schauspielhaus oder im Lokal auf einem Stück Papier interpretieren kann. Es gehört zu seinem Arbeitsprinzip, in den Taschen stets Papierfetzen, Blätter oder Zigarettenpackungen zu finden, damit er spontane Einfälle sofort notieren kann.
Diese Angewohnheit kommt ihm an diesem Tag zupass. Irgendwie fallen ihm einige Sätze zu, sodass er beinahe neben einem Handwerker auf dem mit Abdeckflies bedeckten Boden die Ware abstellen will, um sie zu notieren. Aber er zügelt sein Verlangen. Dieser Handwerker ist ihm fremd. Deshalb könnte der Unbekannte sich über ihn lustig machen. Er könnte behaupten, dass alle Schriftsteller eine Macke hätten.
Zwischen Begrüßungen und Unachtsamkeit, irgendwie, erkennt er eine Stimme. Eine Stimme, die ihn bremst. Sie lädt ihn weder für irgendeinen Arbeitsauftrag ein, auch nicht zum Gespräch. Mein Gott, hinter einigen Gerüststangen platziert steht der wohl bekannteste Dichter der Stadt. Etwas sticht in seinem Herzen. Es sind Emotionen, die als weiße Vögel losfliegen, um nicht mehr zu ihm zurückzukehren, weil sie während des Fluges schwarz werden.
„Heron!“
Der Andere präsentiert sein Lächeln, wahrscheinlich routiniert, abgesehen davon, dass die Position hinter dem Baugerüst für ein Wiedersehen nicht geeignet ist.
Seit Jahren hat er ihn nicht mehr kontaktiert und gedacht, dass er irgendwohin in eine andere Stadt gezogen sei. Ebenso wenig war er ihm in einer publizistischen Versammlung begegnet.
„Gratulation, Kol!“, sagt der Andere, während er seine Hand drückt. Die Gratulation gilt seinem letzten veröffentlichten Text - „Die Vögel kehren im Frühling nicht mehr zurück ...“.
Kol fühlt sich geehrt und doch unwohl. So unwohl, dass er nicht mehr weiß, ob er ihm antworten oder die Anrede so stehen lassen soll. Die angebotene Zigarette nimmt er an. Er erinnert sich später nicht, ob er die Zigarette des bekanntesten Lyrikers der Stadt anbrannte, oder tat es seine Seele, die fast zu fliegen schien.
Nach einer langen Zeit der Totenstille, die einen Poeten ermordet und einen Handwerker zum Leben erweckt, findet er doch einen Satz, um ins Gespräch zu kommen.
Er traut sich aber nicht, ihn zu fragen, ob er als eine gebildete Persönlichkeit, ausgestattet mit der Wissenskapazität eines wahren Genies es schafft, mit den Bauarbeiterkollegen zurechtzukommen. Genauso wenig kommt ihm der Gedanke, den Anderen zu fragen, ob er noch schreibt. Schließlich ist er nicht auf die breite Straße gekommen, um etwa seine Lyrik zu verkaufen, sondern vielmehr seinen handwerklichen Auftrag auf einer Baustelle auszuführen. Er fühlt so viel Mitleid, dass es ihm nicht gelingt, Sätze zu formen.
Heron hat Biologie und Jura studiert. Aber dann kam der Orkan der Revolution. Der Untergang. Vor 16 Jahren wurde er von dem fremden Besatzungsregime aus seiner Heimat vertrieben und hat sich für Deutschland entschieden. In Deutschland ist er zugezogen und hat hier politisches Asyl beantragt. Das zwanzigste Jahrhundert der unerträglichen illustrativen Differenzierung und Ausgrenzung wurde eingeläutet, und darum arbeitet der Akademiker, der zugleich wohl der bekannteste Dichter der Stadt ist, als Maler und Lackierer und muss die Gerüstlagen mit den schweren Materialien auf dem Rücken und in den Händen bezwingen.
Er hat hier als Lagerist, Maler und Lkw-Fahrer gearbeitet. Und auch Toiletten hat er putzen müssen; „ich habe alles gemacht, was mir geboten wurde. Die Arbeit, die ich aufnehmen durfte und die nun mal für mich übrig war, lag weit unter meinen Qualifikationen“, erzählt Heron, „Mein Credo war, keine staatlichen Leistungen zu beanspruchen - das entspricht nicht meinem Charakter.“ Wenn er von diesen Jahren erzählt, dann klingt zwischen den Zeilen durch, wie sehr er darunter gelitten hat, sich fernab seiner Qualifikationen über Wasser halten zu müssen. Er habe sich stets und überall einzuarbeiten versucht, um sein Bestes zu geben. „Aber ich habe schon einiges an Bereitschaft mitbringen müssen, um das ertragen zu können. Meine Diplomarbeit wurde damals kaum angesehen, geschweige denn anerkannt, damit ich in Deutschland in meinem erlernten Beruf hätte weiter arbeiten können. Erst im Herbst 2006 nach 15-jährigem regelmäßigem Aufenthalt hier in Deutschland wurden meine Zeugnisse und die damit verbundene Fachhochschulreife anerkannt“, blickt der 38-Jährige zurück.
Trotz dieser harten Anfangsjahre in der neuen Heimat: Seine Liebe zur Sprache, zum Schreiben, seine Leidenschaft, Geschichten zu erzählen, Romane zu schreiben und für die Poesie, hat der heutige Südstädter nicht verloren. Heron hat sich nicht nur beruflich eine neue Existenz aufgebaut, er hat sich zugleich auch ein neues „Werkzeug“ angeeignet; die deutsche Sprache. In der (Fremd-) Sprache seiner neuen Heimat hat der Wuppertaler mittlerweile mehrere Bücher veröffentlicht bemerkenswert, denn Heron Liber hat nie einen Deutschkurs besucht.
Heron ist Kols größter Held. Zwei von ihm veröffentlichte Lyrikbände sollten eigentlich als Bestseller gelten, wenn es mit rechten Dingen zuginge. Aber seine auserlesenen Werke und die exzellenten und gesellschaftskritischen Texte werden sogar offensichtlich gemieden. Mutmaßlich nach dem Motto: „Ich bin doch nicht bescheuert, Bücher eines ehemaligen Asylbewerbers zu lesen und obendrein einen solchen auch noch zu unterstützen.“ Diejenigen tun ganz offensichtlich so, als ob sie vergessen hätten, dass wahrhaftig die Bevölkerungsmehrheit Deutschlands selbst die Kinder und Enkelkinder von ehemaligen Flüchtlingen, die vor 75 Jahren nach Deutschland gekommen sind und zunächst hier einen Asylantrag gestellt haben, sind. Aber es ist sehr wohl davon auszugehen, dass eigentlich nur eine Minderheit der Literaturinteressierten eine solche krude Hypothese seinen Werken gegenüber kultivieren dürfte. Denn die krude Hypothese ist ja nicht das zuvor Gesagte, sondern die weiter oben genannte Idee, dass Bücher eines ehemaligen Asylbewerbers nicht unterstützenswert seien. Und schuld daran ist möglicherweise auch der Neid - denn viele von ihnen hätten sicher gerne auch nur einen Bruchteil des Talents und der Kreativität, die Heron einfach in die Wiege gelegt wurden. Wie heißt es so schön: „Neid ist die Wurzel allen Übels.“
„Hey, du! Was machst du da unten, Alter? Pause ist später, wir brauchen Armierungskleber. Bring Material her und komm hoch!“, donnert der Handwerksjargon des Bergischen Lands dazwischen, als (vermutlich) der Vorarbeiter aus der fünften Gerüstlage in einer bemerkenswerten Lautstärke Heron die Gewalt des Leitens vor Augen führt. Heron schweigt und leistet dem Folge.
Kol begreift nicht, wie er es mit seinem Selbstbewusstsein geschafft hat, das Gespräch mit Heron zu gestalten. Jedoch, der Tag ist für ihn erledigt. Er geht wie eine Mimose durch die vielen Straßen, schreibt keinen Satz mehr dabei. Mit Absicht kehrt er spät nach Hause zurück, nur, um die Geschäfte geschlossen zu erleben.
Der Morgen aber kommt, ebenfalls das Übermorgen. Kol bleibt jeden Tag am Gerüst von Heron stehen, sodass mittlerweile alle anderen Handwerker wissen, dass die beiden Poeten sind. Der Mentor und sein Schüler.
Für den berühmten Poeten unter den beiden halten die Bürger der Stadt aber Kol Berliner! Weil er imposant ist und eine teure Koffertasche bei sich trägt. Er ist ein Regisseur, Präsident des Schriftstellervereins und ein Universitätsprofessor. Für seine Buchpräsentationen bieten sie ihm einen Platz im Fernsehen an. Die Kameras der lokalen Fernsehprogramme betrachten ihn als ein überregionales Symbol.
Den Handwerker-Poeten aber betrachten seine „Handwerker-Kollegen“ als zweitrangig. Er überzeugt sie nicht durch das, was er kann, was er in der Tat ist. Er verfügt weder über einen riesigen Körper noch über einen netten Status. Auch nicht über eine gute Präsentation. Wäre er wie der andere Poet, so wäre der Heron nicht einer von uns, der auf einer Baustelle arbeitet.
Über Kol haben in der letzten Zeit sämtliche lokalen Fernsehkanäle berichtet. Darum wenden sich die Menschen an ihn und nennen ihn „den großen Kol Berliner“. Wäre er ein Parlamentskandidat gewesen, man hätte vorbehaltlos den „Herrn Poeten Berliner“ zum Regierenden gewählt. Auch die Handwerker sind der gleichen Meinung, dass die Zeit gekommen sei, in der die Intellektuellen rasch reif und klug werden. Schaut euch die Parteien doch an! Wer am lautesten seine Meinung äußert, der führt gleich alle Sitzungen mit den Intellektuellen an.
*
An einem Tag bleibt Kol stehen, um sein Vorbild, den Heron, zu begrüßen. Im Gegensatz zu anderen Malen aber wirkt Kol heute offener, selbstbewusster. Ein inneres Lächeln beherrscht seinen Geist.
„Hast du Eile?“, fragt er Kol.
„Nein“, antwortet der Andere.
„Meine Mittagspause hat gerade angefangen. Auch eine derartig unschöne Unterbrechung wie die von letztem Mal bleibt uns hoffentlich erspart“, erklärt Heron.
Die Baustelle ist still. Zwischen allem herrscht eine, für einen Handwerker, bittere Stille. Kol aber genießt das, was er sich Jahre lang erträumt hat.
Ein egoistischer Gedanke drängt sich zwischen einige Dichtungen Herons, die er Kol präsentiert, identisch mit der Einladung einer Poetenseele. Mein Gott, zwischen den üblichen Baustoffen und den Spuren von Farbenkonglomerat auf der Arbeitsuniform von Heron verbergen sich wahre Perlen. Hier und da glänzt Lyrik wie ein Rubin, Worte schimmern wie Diamanten.
Der Kol Berliner, mit seinem veröffentlichten Arsenal an Büchern, mit seiner Autorität in der gesamten Stadt, steht der Lyrik gegenüber, die der Heron gedichtet hat. Kol ist gegen ihn ein Pinocchio. Ein Poet Pinocchio. Ohne Nerv, ohne Blut.
„Schaffst du es, mit den Bauarbeiterkollegen zurechtzukommen? Erzähl mir bitte über deinen Tagesablauf auf der Arbeit.“, fragt Kol interessiert.
„Es gibt aus diesem Degradierungskompass eigentlich nicht mehr viel Unbekanntes zu erzählen …! Vor Kurzem haben meine Arbeitskollegen erfahren, dass ich studiert habe und, dass ich als Schriftsteller tätig bin. Das haben sie aus den überregionalen Zeitungen erfahren, die über meine Werke so exzellente und unvoreingenommene Texte verfasst und veröffentlicht haben. Dann ... vor zwei Tagen, während der Mittagspause, die wir in der Regel in dem Kellerraum des Hauses, das wir renovieren, verbringen, hatte einer der Kollegen zwei Bier zu sich genommen und …“ Heron pausiert kurz und seine Blicke sind auf einen Punkt in der Ferne fokussiert.
„Bitte, erzähl weiter, ich bin ganz Ohr!“, sagt der Andere.
„Derjenige sagte wortwörtlich Folgendes zu mir:
`Eines Tages kommen wir zu dir und machen Hack aus dir!´
Ich war geschockt und sprachlos, als ich das mit meinen eigenen Ohren hören musste. Meines Erachtens hätten sich selbst die Kannibalen nicht drastischer als mein Arbeitskollege an jenem Tag ausgedrückt. In dem Pausenraum machen wir mit acht Mann zeitgleich Pause und fünf davon konsumieren übermäßig Nikotin. Mindestens zwei meiner Arbeitskollegen füllen ihre Thermoskannen mit Bier statt mit Kaffee oder Tee und den ganzen Tag humpeln die, - bei denen die Logik und Intelligenz in den Muskeln sitzt, - durch die Gerüstlagen, mit dem Alkohol im Kopf. Hierbei artikulieren sie gelegentlich auch nationalfaschistische Sprüche vor sich hin, so, als ob nichts gewesen wäre. Und das sind keine einmaligen Tagesabläufe, sondern es sind die Vorgehensweisen jedes gottverdammten Tages. Auf meine Nachfrage, weshalb derjenige mir so etwas gesagt habe - da ich schließlich nicht zu verzehren bin?! - antwortete er mir sehr aufgebracht und in aggressivem Ton: `Was willst du, Alter, hä?!´ Er stand auf und sein Gesicht war vor lauter Wut leicht deformiert. Der Vorarbeiter intervenierte und verhinderte eine Eskalation. Ich bin nicht für Konflikte und auch nicht für Brutalität prädestiniert, Kol. Sodass ich mich dafür entschieden habe, meine Frühstücks- und Mittagspausen hier draußen und zumeist alleine zu verbringen, um denen aus dem Wege zu gehen“, erzählt Heron und holt tief Luft.
„Wie bitte?! Was sagt der Arbeitgeber dazu? Warum definiert man die Verantwortlichen, die den offensichtlichen Hass schüren und nur derartige Morddrohungen übrig haben und sie sogar auf die übelste Weise publik heraustragen dürfen, nicht als Terroristen? Das begreife ich noch immer nicht!“, Kol ist sprachlos und geschockt von dem, was er da hören muss.
„Das Ganze ist doch sinnlos, wenn leider Gottes eine beachtliche Anzahl der Protagonisten die gruselige Meinung und die äußerst schreckliche Position der Verantwortlichen vertritt. Es ist doch logisch: Würde die Mehrzahl der Kollegen nicht auf der Seite der Gesinnungslosen stehen, dann stünde ich hier während meiner Mittagspause definitiv nicht alleine! Und es ist zu vermuten, dass auch diverse Arbeitgeber involviert sind. Denn wäre es nicht so gewesen, hätten solch schreckliche Äußerungen erst recht auf keinen Fall zum Ausdruck gebracht werden dürfen.
All die Jahre erlebe ich höchstpersönlich Szenarien wie das zuvor genannte. Manchmal ähneln sich diese gegenseitig sehr, manchmal sind sie nur ein wenig milder gestrickt, und zwar dann, wenn sie frontal zum Ausdruck gebracht werden. Zum Beispiel:
Der Arbeitskollege Uwe artikuliert völlig unerwartet und wie aus dem Nichts Folgendes: `Dö, Dö, Dö, Dö, Dö, Dö …´ Und der Dennis erwidert: `Ignatz, Ignatz, Ignatz …!´ Diese Strophen werden unzählige Male während der Arbeitszeit wiederholt, und das nahezu tagtäglich! Bitte hab Verständnis dafür, dass ich den weiteren Kommentaren, die ich leider Gottes erleben muss, nicht explizit Ausdruck geben möchte. Denn das würde mein Bildungsniveau und meine persönliche exzellente Kultur und die hervorragende Erziehung meiner Familie beleidigen.
Jedenfalls, die Botschaft von den zuvor genannten Straftaten war und ist leider noch immer unmissverständlich und unverändert geblieben; nämlich Hass, Hass und noch einmal Hass. Denn von der rechten Sprache bis zur rechten Gewalt ist es nur ein kleiner Schritt. Und das Einzige, was ich dahingehend machen konnte, war, den Arbeitgeber zu wechseln, und nun werde ich dazu gezwungen, in Kürze dasselbe wieder zu unternehmen. Zum Glück ist es mir gelungen, sofort im Anschluss einen anderen Arbeitsplatz zu finden … Das wird mir mit Sicherheit auch hiernach gelingen … Und so weiter … Darum, mein geschätzter Kollege Kol, habe ich bisher in diversen Arbeitsstätten hart gearbeitet, um mein `hartes Brot´ verdienen zu dürfen … Nun zu deiner ursprünglichen Frage:
So schaffte ich es, bei meinen weit tiefer als unterqualifizierten Beschäftigungsangeboten, denen ich nachzugehen hatte, mit meinen Bauarbeiterkollegen zurechtzukommen. Kurzum: Sei bloß froh darüber, dass du kein politisch Vertriebener der 90-er Jahre bist und nicht als Akademiker hier in Deutschland Anfang der 90-er Jahre einen Asylantrag stellen musstest ...! Mir hingegen hat die enigmatische Kraft des Lebens -, so wie in den zuvor genannten Geschehnissen in Kurzform entrollt - imponiert, die schlimmste Odyssee (im wahrsten Sinne des Wortes) zu schmecken.“ Konzentriert und entspannt tut Heron seine wahren Erlebnisse und Erfahrungen, die er im Deutschland des 21. Jahrhunderts sammeln musste, kund.
Herons Arbeitskollegen tauchen allmählich aus ihrem Pausenraum auf und die Baustelle ist wieder besetzt. Kol geht weiter, überlegend wie ein Dichter. Einen Termin im Café Adanan will er wahrnehmen. Warum sollte er es nicht tun? Man lud ihn zum Kaffee ein, er versprach es und möchte gern dabei bleiben. Er ist verabredet.
Und so, mit kleinen Schritten, die Gedanken hin und her wälzend, erreicht er das berühmteste Lokal der Stadt.
Sobald Apollon ihn sieht, steht er auf und bietet ihm höflich einen Platz an. Es folgen die monotonen Fragen eines Treffens. Danach folgt eine Pause, die schwer wiegt, damit Apollon eine gewisse Achtung schon am Beginn des Gesprächs aufbaut, und anschließend folgt ein Wasserfall von Worten ohne Unterlass.
Mit ihm war Kol auf demselben Gymnasium gewesen. Sie kamen gut miteinander zurecht. Die Verhältnisse dieser früheren Freundschaft waren von netten Gesten begleitet. Als Apollon anfing, sich intensiv mit einer bestimmten Partei zu beschäftigen, folgte eine Abkühlung der Freundschaft. Kol fragte ihn kaum, welcher Partei er angehörte. Für ihn waren die Publizistik und Poesie einfach überparteilich, weil sie miteinander sprachen, ohne zu fragen, welche Farbe die Kleidung des anderen hat. Als aber die Wahlen gekommen waren, wandte sich Apollon an ihn, er wurde wärmer und herzlicher. Er lud ihn zum Kaffee ein, sogar auch zur nächsten Sitzung seiner Partei.
Kol weiß nicht einmal, wann die Wahlen sind, wann überhaupt eine Sitzung stattfindet.
„Morgen?“, fragt er Apollon unsicher.
„Morgen, weil es so vereinbart ist. Unser Vorsitzender hat einen vollen Terminplan. Er hat vor, nach Straßburg zu verreisen.“
Er atmet inzwischen aus, als ob er sich an den Effekt seiner Worte herantasten möchte. Als er merkt, dass der Andere ihm kaum zuhört, wechselt er die Gesprächsrichtung.
„Jetzt sind die Einladungen sogar mit nummerierten Sitzplätzen versehen. Es gibt so viele Interessierte, dass wir uns nicht im Klaren sind, wie wir mit unseren Rechtspopulisten zurechtkommen, wegen der Plätze. Die Intellektuellen wie du aber, die finden sich ganz allein zurecht.“
„Apollon, wir kennen uns seit vielen Jahren. Eine reine Ehrlichkeit hat unsere Freundschaft kontinuierlich geprägt und kreiert. Die gegenseitige Wertschätzung und der Respekt stabilisieren sie fortwährend. Deshalb bin ich auch explizit in einem Dialog mit dir und möchte letztendlich folgendem Anliegen Ausdruck geben:
Ich möchte nicht so sein wie die unzähligen Professoren und Doktoren, die vor knapp über 75 Jahren ihre Verantwortung geleugnet und ausgesagt haben, dass sie mehrere Jahre lang nichts gesehen und nichts davon mitbekommen hätten, dass Millionen von unschuldigen Zivilisten und unbeschützten Minderheiten auf die grausamste Art und Weise und automatisiert vergast, ermordet und ausgelöscht wurden. Ich sehe und ich kann es erfühlen, wie sich der Hass schleichend verwurzelt. Und ich bitte dich, als Kumpel und als Politiker, entschlossen und intensiv etwas dagegen zu unternehmen, bevor wir als Gesamtheit uns von den Radikalinskis zum wiederholten Male in eine Katastrophe steuern lassen.
Denn von der rechten Sprache bis zur rechten Gewalt ist es nur ein kleiner Schritt. Die ausländerfeindlichen Hassäußerungen, kombiniert mit rassistischen Vorstellungen, enthalten bereits den Keim eines Rassenkrieges. Wir befinden uns alle bereits längst in einem Rassenkrieg - das ist der gemeinsame Nenner von diesen harmlos erscheinenden Äußerungen der rechtspopulistischen Politiker auf der einen Seite und den Bekennerschreiben von rechtsradikalen Terroristen auf der anderen Seite.
Mit dieser Rhetorik der rechten Szene wird eine Trennung zwischen Menschengruppen für notwendig erklärt, explizit also: `Die sichere, stabile Gruppe des harmlosen, unschuldigen Wir gegen die Gruppe der Anderen, die von vornherein immer gewalttätig auftreten´. Ich schätze dich sehr, hab einen guten Tag. Ich muss leider weiterziehen“, sagt Kol sehr entschlossen und steht auf.
Apollon zahlt, obwohl Kol es hat übernehmen wollen. Er verabschiedet sich von Apollon. Wo soll er nun hin? Er hat seinen Kaffee genossen, die Einladung hinterlässt bei ihm aber einen bitteren Geschmack. Er weiß nicht, wohin, lieber kehrt er nach Hause zurück, um die andere Hälfte des angefangenen Buches zu lesen. So geht er, darüber nachdenkend, weiter. Er geht über die große Kreuzung. Schaut an der Straßenkurve zu dem Fassadengerüst, dahin, wo der Lyriker der Stadt als Maler und Lackierer arbeitet. Wagt einen Schritt. Noch einen. Die Einladung in seiner Tasche kommt ihm wie eine Bombe vor, sie brennt wie eine explosive Masse.
Eine Einladung wozu? Eine Einladung ins Nirgendwo. Es kommt ihm vor, als ob er das Kommando über seine Füße nicht mehr kennt. Irgendetwas vernagelt ihn. Er wirft einen weiteren Blick in die Richtung des Gerüstes vom Heron. Er bemerkt ihn von Weitem, den, der wie eine Leiche im Stehen aussieht. Genauso wie die Särge hochgestellt werden, wenn sie zur Haustür der betroffenen Familie geliefert werden, um die Leiche einzusargen. Mehrere Mehrfamilienhäuser aus derselben Straße haben ihre Modernisierungsmaßnahmen zeitgleich gestartet, und selbst die neurenovierten Häuser, wo Heron am Arbeiten ist, sieht er nicht. Sie alle kommen ihm wie Särge vor. Der Maurer, der auf der anderen Baustelle -, nur zwei Häuser von Herons Baustelle entfernt - gerade den Zementmörtelsack auf dem Rücken transportiert, war einmal ein bekannter Ingenieur der Ökologie. Der Hilfsarbeiter etwas weiter, der gerade die an der Fassade bereits geklebten 10-cm-Styroporplatten abschleift, war einmal ein Diplomat. Der andere, etwas reifere Herr, der auf der Baustelle daneben die Reste von den zu viel geschnittenen Gewebebahnen und den leeren, fallengelassenen Armierungsmörtelsäcken und die Reststücke der herumliegenden Eckschutzschienen einsammelt, war früher in Albanien ein Oberbefehlshaber und sammelt jetzt als Leiharbeiter den Baustellenmüll ein. Der Fensterreiniger daneben war in seiner Heimat ein Mikrobiologe.
Sie sind vor ihrer Zeit verstorben. Der Ingenieur ist gestorben, auch der Diplomat, auch der Oberbefehlshaber, selbst der Mikrobiologe. Oh, lieber Gott, wer tötete sie alle, wer?
Diese verrückte Zeit, die einen Jemand zu einem Niemand transformiert. Einen Niemand gestaltet sie hingegen zu einem neuen Jemand ... Nur wenige von ihnen dekorieren sich mit dem, was sie einmal wert waren.
Seine Augen verdunkeln sich. Sammelt er seine Kräfte, wagt es, noch weitere Schritte nach vorn zu gehen? Er weiß, dass der Heron jeden Tag auf ihn wartet, solange er auf derselben Baustelle noch zu tun haben wird, um einen Gedankenaustausch zu führen, um ihm seine eben geschriebene Lyrik zu präsentieren.
Er steckt die Hand in die Tasche. Die Einladung ist da, sehr hübsch geschrieben, die erste Reihe, der sechste Sitzplatz. Genau gegenüber von den vielen Kameras. Um den Journalisten sagen zu können: „Schaut an, der große Kol Berliner gehört uns, der Intellektuelle X gehört zu uns, den Y haben wir verdient.“ Er schüttelt den Kopf. Wenn er sie aber fragen würde, welche seiner Bücher sie überhaupt gelesen haben … Er schüttelt erneut den Kopf. Kein einziges ... keiner von ihnen ... kein einziges Buch … keiner von all denjenigen.
Obwohl die Häuser zum Teil fertig renoviert worden sind und zum Teil noch renoviert werden, ist die Straße immer noch nicht zu Ende asphaltiert. Gestern Abend ist starker Regen gefallen. Die Löcher auf der Straße sind voller Schlamm. Beinahe will er die Einladung rausholen, um sie wegzuwerfen, aber nein, er möchte keinen schlechten Eindruck bei den Bauarbeitern erwecken, die mit Sympathie auf Kunden warten, die sich freuen, wenn ihre Arbeitsqualität mit den vorgegebenen Vorstellungen und Erwartungen des Auftraggebers im Einklang steht. So überlegt er sich eine kultivierte Methode. Er holt die Einladung aus der Tasche, zerreißt sie ausführlich und wirft sie in einen Mülleimer. Abgesehen davon, dass er sein Vorhaben gewagt erledigte - unabhängig von den Blicken der Bauarbeiter -, doch dem überlegenden Blick eines mächtigen Handwerkers konnte er nicht entwischen.
„Hast du gesehen?“, fragt der seinen Nachbarhandwerker, „Kol Berliner zerriss eines seiner Gedichte und warf es in den städtischen Müll.“
Kol fühlt sich erleichtert und erholt. Heute hätte er nicht mehr tun können als das.
Dezember 2008
{Hinweis: Die Erzählung „Der Mentor und sein Schüler“ befasst sich mit dem Leben und Arbeiten von Schriftstellern und trägt autobiografische Züge. Der Artikel 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland gehört zum ersten Abschnitt (Grundrechte) und garantiert die Gleichheit vor dem Gesetz, die Gleichberechtigung der Geschlechter und verbietet Diskriminierung und Bevorzugung bestimmter Eigenschaften. Damit handelt es sich um ein Gleichheitsrecht. Art. 3 Absatz 1 GG enthält den allgemeinen Gleichheitssatz, der den Staat zur Gleichbehandlung aller Menschen verpflichtet. Das, was mir ganz offensichtlich die Assoziationen eines erstaunlichen Kuriosums vermittelt, ist die Tatsache, dass den vertriebenen Familien und Einzelpersonen/Akademikern in Deutschland die elementarsten Rechte ganz offensichtlich gezielt verwehrt und entzogen werden, und zwar aufgrund von Unterschieden in ihrer sozialen Herkunft. Meine Texte sind nicht gleichgültig, wenn Minderheiten so offensichtlich diskriminiert werden. Daher werden in dieser Erzählung gleichzeitig auch persönliche Erinnerungen mittransportiert.}